Die Fragen leben
Sie ist noch gar nicht richtig da und es fühlt sich schon an, als hätte sie immer dazugehört. Dr. Rahel Siebald steigt im September als neue Dozentin am TSA ein und wir haben sie schon mal gefragt, wie sie das mit dem Tun und Handeln so sieht. Und wir wollten wissen, was sie sich selbst vorgenommen hat.
Der Auftrag hatte uns schon bevor wir den Auftrag hatten, schreibt der Theologe Karl Barth sinngemäß. Christsein, Glauben und Theologie sind spannend, weil es um so viel mehr geht als uns selbst. Wir befinden uns immer schon in einer größeren Geschichte.
Nicht pausenlos besorgt
Als ich vor einem Jahr an meiner Doktorarbeit in Schottland saß, hatte ich keinen blassen Schimmer, dass es das Lebenszentrum Adelshofen gibt. Nun sitze ich hier in der Bibliothek und frage mich als neue Dozentin für Ethik und Dogmatik, was mein Auftrag, aber auch unser gemeinsamer Auftrag hier an diesem Ort ist. Und damit sind wir vielleicht schon bei einem Teil der Antwort. Unser Auftrag ist es herauszufinden, wie Gottes Geschichte hier an diesem Ort und in dieser Zeit weitergeht. In diesem Auftrag steckt sofort auch etwas Befreiendes. Wir müssen nicht pausenlos darum besorgt sein, ob etwas aus unserem Leben wird. Wir sind eingeladen in eine Geschichte, in der wir mitgestalten, mitstaunen, mitarbeiten dürfen.
Weil du und ich in genau dieser Zeit stehen, ist es an uns, herauszufinden, was Gottes Weg mit dieser Zeit ist. Wenn man in unsere Zeit hineinhört, sind da vor allem Krisen und Ungewissheiten – Sprachlosigkeit und gleichzeitig zu viele Worte. Es wirkt so, als müssten wir für viel zu viele Probleme gleichzeitig Lösungen haben: Technische Entwicklung, Kriege, Pandemien, ethische Schlachtfelder, neue Parteien, große Fluktuationen in Wohnorten und Kirchen. Strategien und Worte, die lange funktioniert haben, scheinen nicht mehr zu greifen. Unsere Zeit scheint schneller im Fluss als andere Zeiten. Es kann dann schlicht wie eine Last wirken, dass wir uns genau in dieser Zeit wiederfinden.
Diese Zeit ist unser Auftrag
Ich träume von einer theologischen Ausbildung, in der wir nicht aus Angst vor diesen großen Fragen, verdrängen, dass diese Zeit unser Auftrag ist, unser Auftrag in der größeren Geschichte Gottes. Durch die Jahre meines Studiums haben mich die Worte ermutigt, die der Dichter Rainer Maria Rilke vor etwa 100 Jahren an einen jungen Schriftsteller schrieb:
„Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“
Ich finde Rilkes Worte ungemein ermutigend. Wenn wir überwältigt sind von Ungewissheiten, dann geht es nicht einfach nur um Antworten, sondern es geht darum, mit diesen Fragen zu leben. Fragen müssen nicht nur durchdacht und gelöst werden, sondern durchlebt und durchlitten. Nur dann können wir wissen, ob eine Antwort wirklich tragen wird. Manchmal werden wir entdecken, dass die Frage, die wir gestellt haben, die ganz Falsche war. Wie einer meiner Lehrer uns gerne ermahnt hat, wenn es um das Alte Testament ging: „Wenn der Bibeltext die Frage nicht beantwortet, war es die falsche Frage.“ Mit und in Fragen leben bedeutet zu lernen, die richtigen, die wirklich weiterbringenden Fragen zu stellen. Rilke macht aber auch deutlich, dass manche Fragen einfach Zeit brauchen. Ich wünsche mir in Theologie und Kirche eine neue Barmherzigkeit, mit der Tatsache, dass wir auf manche Frage (noch) keine Antwort haben, weil wir in einer Zeit voller Veränderungen leben.
Innehalten und Nachdenken
Als Ethikerin bin ich fasziniert von den Fragen, denen wir in unserer Zeit begegnen von künstlicher Intelligenz über Identitätsfragen zu politischen Spannungsfeldern rund um die problematische Geschichte des Kolonialismus oder auch der Frage, wie ein gesundes Wirtschaftssystem aussehen kann. Das sind große Themen. Unter diesen Fragen liegen oft grundsätzlichere Fragen: Was macht uns zu Menschen? Wie leben wir gut (zusammen)? Theologinnen und Theologen haben über diese Fragen tatsächlich seit zweitausend Jahren nachgedacht. Im Gespräch mit der Bibel und unseren Vorgängern und Vorgängerinnen im Glauben lässt sich in diesen Fragen eine neue Tiefe gewinnen. Aber weil sie auch nicht in allem richtig lagen, weil wir als Christen nie fertig damit sind, Gott kennenzulernen, ist unsere Zeit mit ihren grundsätzlichen Fragen auch eine Chance, neu darüber nachzudenken, was christlichen Glauben, was Menschsein ausmacht und wer der Gott ist, der uns ins Leben gerufen hat. Ich sehe Adelshofen als einen Ort, an dem wir innehalten können in unserer schnellen Zeit, um diese Fragen zu stellen. Die Falle unserer Zeit ist, dass es leicht so wirken kann, als bräuchten wir vor allem schnelle Lösungen. Die Zeit rennt uns davon. Aber manche Dinge brauchen Zeit. Wir brauchen Menschen, die gelernt haben, die richtigen Fragen zu stellen. Ein Theologiestudium ist ein Ort, Fragen zu stellen und zu lernen, dass es mehr gibt als das, was direkt vor unserer Nase ist.
Da ist Raum für Gott
Aber das Rilke-Zitat öffnet noch eine zweite Perspektive: Fragen sind nicht nur zu lösende Probleme. Es geht darum, die Fragen lieben zu lernen, zu umarmen. Zu lernen, dass da wo Fragen sind, auch Raum für Neues ist, Raum für Gott uns Neue Dinge aufzuschließen. Die Bibel konfrontiert uns mit dem Bild eines lebendigen, handelnden Gottes. Theologie hilft uns nicht in erster Linie, uns rückzuversichern über das, was wir sowieso schon wissen, sondern unser Bild von diesem Gott immer mehr verändern zu lassen. Da wo Fragen sind, ist die Hoffnung, dass wir diesem Gott auf die Spur kommen. Unser Handeln, unser Leben, unsere Berufung, unsere Gebete sind immer nur Antworten in der Geschichte, die Gott schon begonnen hat. Solch eine Erkenntnis kann man nicht einfach lehren und vermitteln, sondern nur bezeugen. Ich bin deshalb dankbar, dass Adelshofen ein Ort ist, an dem es Gebete zu festen Tageszeiten, Liturgie und Andacht gibt. Der Strom unseres Lebens wird unterbrochen, umgelenkt, geführt. Als Theologin wünsche ich mir mit Menschen in dieser Zeit, Fragen ohne Angst nachzugehen und mir immer wieder bewusst zu machen, dass Gott mit dieser Welt in all ihren Nöten und ihrer Komplexität nicht am Ende ist.
In dieser Hoffnung dürfen wir Gott im Gebet herausfordern uns neu zu zeigen, was unsere Zeit braucht. Und dann dürfen wir auch hingehen und fröhlich handeln in der Gewissheit, dass der Fortgang dieser Geschichte nicht an uns allein hängt.
Dr. Rahel Siebald hat von 2020-2024 an der Universität Aberdeen (Schottland) eine Doktorarbeit über Management und Leiterschaft in Kirchen geschrieben. Sie liebt es, wandern zu gehen, durch Bücherläden zu streifen und mit Freunden zu reisen.