Von Jugendlichen lernen

So richtig alt ist er selbst noch nicht, aber er wagt sich schon mal an die Frage ran, was man von jungen Menschen lernen kann. Damit setzt er einen interessant veränderten Fokus und meint: Es reicht nicht aus, nur ältere, lebenserfahrene Vorbilder zu haben. Es braucht auch die Jüngeren mit ihrer ganz eigenen Dynamik. Ole Kratzat über seine Lernkurven im Jahresteam.

 

 

Heutzutage regen sich die Leute ständig auf. Über alles und jeden. Und vor allem über die junge Generation. „Sowas hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben“, „Die Jugend von heute geht den Bach runter“, „Die haben keinen Respekt mehr“, „Wie soll aus denen nur was werden?“ Den Groll über die jungen Leute gibt es schon seit tausenden von Jahren. Sogar auf uralten Tontafeln und Keilschrifttexten ist er zu finden. Und ja, manchmal ertappe ich mich selbst dabei, wie mir ähnliche Sätze über die Lippen gehen. Wenn ich aber in den letzten zwei Jahren eins gelernt habe, dann das: Je mehr Zeit du mit jungen Menschen verbringst, umso mehr wird dir bewusst, wieviel du von ihnen lernen kannst. Insbesondere wenn es um das Thema Ehrlichkeit geht.

 

Ne Scheibe abschneiden

Wir haben es mit der vielleicht ehrlichsten Generation der Menschheitsgeschichte zu tun. „Darüber spricht man nicht“ ist längst kein Satz mehr, den man junge Leute sagen hört. Es gibt kaum noch Tabuthemen. Es wird knallhart und ehrlich über intimste Dinge wie Sexualität, Beziehungskrisen, psychische Gesundheit, Missstände oder Rückschläge in Schule und Beruf gesprochen. Das Beschönigen, was noch vor Jahren auf Social Media und im echten Leben an der Tagesordnung war, ist mittlerweile „out“. Stattdessen suchen junge Leute nach Menschen und Dingen, die „echt“ sind – authentisch und unverfälscht eben. Natürlich ist absolute Ehrlichkeit sowie das Aufdecken aller Geheimnisse nicht immer gesund. Trotzdem finde ich, wir können uns etwas von dieser Ehrlichkeit abschneiden: Ungerechtigkeit direkt und offen thematisieren, Tabuthemen ansprechen, Schwäche zeigen, statt den Schein zu wahren, authentisch für das einstehen, was man denkt.

 

Ganz schön was verändert

Ehrlichkeit kann aber auch herausfordernd sein. Die letzten beiden Jahresteams, die ich hier im Lebenszentrum begleitet habe, waren teilweise sehr ehrlich. Vorab sei gesagt: Genau das hat es an manchen Stellen gebraucht! Da wurde schnell gesagt, was einen stört: „Das finden wir ungerecht. Das nervt. Das ist bei anderen Jahresteams besser geregelt.“ Im Laufe eines Jahres, welches man miteinander verbringt, kommen bei den Jugendlichen dann doch einige Themen hoch, die Konfliktpotential haben. Ich als Leiter habe viele ehrliche Rückmeldungen bekommen. Es wurden so manche Abläufe und Regelungen hinterfragt, welche man die Jahrzehnte davor einfach so hinnahm. Stellt euch doch nicht so an. Das ist hier halt einfach so, dachte ich mir an manchen Tagen. Mir waren eben oftmals auch die Hände gebunden. Rückblickend muss ich zugeben, dass die Ehrlichkeit und der Mut der Jugendlichen für manche positive Veränderung gesorgt haben: Die Einführung der 5-Tage Woche, ein Rotationssystem bei der Arbeit sowie eine gemeinsame Jahresteam-WG, um nur ein paar davon zu benennen.

 

Ehrlich mit sich selbst sein

Aber auch untereinander waren die Jugendlichen ehrlich. Im Miteinander kam es immer wieder zu Konflikten und Unstimmigkeiten – völlig normal, wenn man zwölf Monate auf engstem Raum zusammenlebt und arbeitet. Als Leitung ermutigen wir das Jahresteam Spannungen und Störfaktoren nicht zu ignorieren, sondern anzusprechen. Das erfordert Mut zur Ehrlichkeit und Taktgefühl. Ich erinnere mich an viele intensive und emotionale Aussprachen unter den Jugendlichen. Ich wünschte ich selbst wäre in manchen Momenten so mutig wie manche der Jahresteamler.

 

Wer nach der Schule ein Jahr Freiwilligendienst macht, lernt sich meistens nochmal ganz neu kennen. Ich beobachte, dass die Jugendlichen nach einem Jahr verändert von hier fortgehen. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Jugendlichen hier lernen, ehrlich zu sich selbst zu sein. Das klingt in der Theorie oftmals leichter, als es tatsächlich ist. Sich seiner Schwächen und Grenzen bewusst zu werden, braucht Zeit und Reflektion. Schwächen als Teil von sich zu akzeptieren, braucht Demut und Grenzen anzugehen beziehungsweise an ihnen zu arbeiten, erfordert Kraft. So ein Jahr der Lebensschule ist nichts für Faulenzer. Ich merke anhand der Praxis: junge Menschen sind lernfähiger, kritikfähiger, offener für Veränderung und gewöhnen sich schnell an diesen neuen Lebensrhythmus. Sie sind in ihrer Selbstwahrnehmung nicht festgefahren, sondern wollen sich selbst neu kennenlernen. Auch da dürfen wir von ihnen lernen.

 

Da wird kein Schein gewahrt

Ehrlich Glauben. Auch die Beziehung zu Gott spielt das Jahr über eine wichtige Rolle. Die Jugendlichen kommen mit großen Erwartungen hierher. Sie wollen Gott auf neue Weise begegnen und kennenlernen. Oftmals merken sie dann aber, dass diese neuen Gottesbegegnungen gar nicht so automatisch und wie von selbst passieren. Dass es Eigeninitiative und Schritte im Vertrauen braucht und Gott uns auch in manchen Bereichen einfach warten lässt. In solchen Momenten ist Frustration, Enttäuschung oder auch Unverständnis im Raum. Da wird so manches Mal ehrlich geklagt vor Gott, anstatt den frommen Schein zu wahren. Und ich wage zu behaupten: Das ist gesund.

 

Die heutige junge Generation ist ehrlicher als jemals zuvor. Gerade deshalb braucht sie authentische und nahbare Vorbilder. Es braucht ehrliche Begegnungen untereinander. Eine Offenheit Zweifel, Schwächen und eigene Fehler anzusprechen, anstatt sie zu verdecken. Es braucht Jünger, die ihren Glauben ehrlich vorleben. Und ich bin sicher, dass die heutigen Jugendlichen in einigen Jahren diejenigen sind, die diese Rolle am besten ausfüllen.

 

 

Ole Kratzat ist mit Nadine verheiratet und Vater von zwei Kindern.Er absolvierte 2020 das Theologische Seminar und kehrte nach zwei Jahren Gemeindeerfahrung nach Adelshofen zurück. Neben der Leitung des Jahresteams kümmert er sich um Jugendevents, Freizeiten und seine Musik.