Sie liebte es, im Wald zu sein

Die einen sagen, man solle Dingen, vor denen man sich fürchtet, besser aus dem Weg gehen. Die anderen meinen, man solle der Angst lieber bewusst begegnen, um sie zu entmachten. Dr. Rahel Siebald liest Astrid Lindgren und meint: Mit Angst endet manche Geschichte, noch bevor sie richtig begann. Was das für den gelebten Alltag heißt? Lesen Sie selbst.

 

 

„Darum ist man im Mattiswald am sichersten, wenn man sich nicht fürchtet…“ Wer mich etwas kennt, weiß, dass Ronja Räubertochter eine entscheidende Rolle in meinem Leben spielt. In einer Gewitternacht wird Ronja, die von der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren erfundene Romanfigur, auf einer Burg tief im Mattiswald geboren. Hier wächst sie auf mit ihren Eltern, Lovis und Mattis, und zwölf Räubern. Dass sie Räuber sind, weiß Ronja noch nicht. Sie weiß nur, dass Mattis und seine Räuber am Morgen die Burg verlassen und am Abend mit allem, was es zum Leben braucht, heimkehren.

 

Ronja darf selbst losziehen

Ihre ersten Lebensjahre verbringt Ronja in den sicheren Wänden der mächtigen Mattisburg, geliebt, bejubelt und umsorgt von ihren Eltern und der ganzen Räuberbande. Doch nicht für immer kann Mattis seine kleine Tochter davor abschirmen, wie er seinen Lebensunterhalt verdient und wie gefährlich das Leben außerhalb der Burggemäuer ist. Eines Tages ist es so weit: Ronja darf selbst losziehen in den Wald. Jeder Wald ist voller Leben und wilder Geheimnisse. Im Mattiswald gibt es noch dazu allerlei Fabelwesen: Graugnomen, Wilddruden, Rumpelwichte. Bevor Ronja aufbricht, gibt Mattis seiner Tochter deshalb entscheidende Ratschläge mit:

 

„Hüte dich vor den Wilddruden und den Graugnomen und den Borkaräubern“, sagte er. „Woher soll ich wissen, wer die Wilddruden und die Graugnomen und die Borkaräuber sind?“, fragte Ronja. „Suchst dir den richtigen Pfad“, antwortete Mattis. „Na dann“, sagte Ronja. „Und dann hütest du dich davor in den Fluss zu plumpsen“, sagte Mattis. „Und was tu ich, wenn ich in den Fluss plumpse?“, fragte Ronja. „Schwimmst“, sagte Mattis. „Na dann“, sagte Ronja. „(…) Sonst noch was?“ „O ja“, sagte Mattis. „Aber das merkst du schon selber so allmählich. Geh jetzt!“ [1]

 

Wenn man sich nicht fürchtet

An ihrem ersten Tag kommt Ronja aus dem Staunen nicht heraus. Der Wald ist riesig. Da sind Flüsse und große Bäume, man konnte auf Felsen klettern und die Füße im Wasser baumeln lassen. Erschöpft von all den neuen Eindrücken schläft sie am Ufer eines Weihers ein und wacht erst auf, als die Sterne schon über den Baumwipfeln stehen. Eilig macht Ronja sich auf den Heimweg, doch plötzlich sieht sie kleine Augen in der Dunkelheit, zu denen seltsam zischende Stimmen gehören. Graugnomen! Gerade noch rechtzeitig wird Ronja von ihrem Vater gefunden und gerettet. Wie geht die Geschichte weiter? Beschließen Ronjas Eltern, dass es wohl doch zu früh war, Ronja alleine in den Wald gehen zu lassen? Mattis hatte von Anfang an gezögert. Wird Ronja eine Ausgangssperre gesetzt? Lovis und Mattis wissen als weise Eltern wohl, dass man Kinder nicht vor dieser Welt beschützen kann.

 

Mattis, zurück auf der Mattisburg, stellt trocken fest: „Jetzt weißt du, was Graugnomen sind.“ (…) „Ja, jetzt weiß ich, was Graugnomen sind“, sagte Ronja. „Aber wie du mit ihnen fertig wirst, das weißt du nicht“, sagte Mattis. „Wenn du Angst hast, wittern sie das von weit her, und erst dann werden sie gefährlich.“ „Ja“, sagte Lovis, „das gilt für so mancherlei. Darum ist man im Mattiswald am sichersten, wenn man sich nicht fürchtet.“ „Das will ich mir merken“, sagte Ronja [2].Und wie geht die Geschichte weiter? Wird Ronja noch einmal losziehen? Wird sie sich einige Tage nicht mehr hinaus trauen? Wird sie in Sichtweite der Mattisburg bleiben? Was Ronja tat, hat mich als Kind tief beeindruckt.

 

Beim ersten Mal war es schwer

Während der folgenden Tage tat Ronja nichts anderes, als dass sie sich vor allem Gefährlichen hütete und sich darin übte, keine Angst zu haben. In den Fluss zu plumpsen, davor sollte sie sich hüten, hatte Mattis gesagt, und darum sprang sie am Ufer kühn und keck von einem glatten Stein zum anderen, dort, wo das Wasser am wildesten toste. Schließlich konnte sie sich ja nicht im Wald davor hüten, in den Fluss zu plumpsen. Sollte das Sich-Hüten überhaupt von Nutzen sein, dann musste sie es bei den Stromschnellen und Strudeln und nirgendwo sonst üben. Wollte sie aber zu den Stromschnellen gelangen, musste sie den Mattisberg hinabklettern, der jäh und schroff zum Fluss hin abfiel. Auf diese Weise konnte sie sich gleichzeitig darin üben, sich auch davor nicht zu fürchten. Beim ersten Mal war es schwer, da packte sie eine solche Angst, dass sie die Augen zumachen musste. Doch nach und nach wurde sie immer wagemutiger, und bald kannte sie alle Spalten und Ritzen, wo ihre Füße Halt fanden und sie sich mit den Zehen festkrallen konnte, damit sie nicht rücklings in den Fluss stürzte. Welch ein Glück, dachte sie, dass ich eine Stelle gefunden habe, wo ich mich davor hüten kann, in den Fluss zu plumpsen, und mich gleichzeitig üben kann, keine Angst zu haben! [3]

 

Keine Angst in der Welt

Bald schon kann Ronja sich sicher durch den Wald bewegen, sie verliert ihre Angst vor Wilddruden oder davor, sich zu verirren. Astrid Lindgrens letztes Kinderbuch malt vor Augen, dass diese Welt zum Fürchten ist und wir trotzdem nicht von Angst bestimmt sein müssen. Im Roman hört der Wald nie auf, gefährlich zu sein und mehrmals entkommt Ronja nur knapp dem Nebel, dem Winter, den Wilddruden. Aber dennoch liebt sie es, im Wald zu sein.

 

Wir erfahren von Astrid Lindgren nicht, ob Ronja ein besonders mutiges oder ein besonders ängstliches Kind war. Ronja lernte mutig zu sein, keine Angst zu haben in einer Welt, die zum Fürchten ist. Das hat mich schon im Grundschulalter begeistert und ist mir bis heute ein Vorbild. Warum? Angst ist nicht unnatürlich in der Welt, in der wir leben. Aber der Wald, der das Fürchten lehrt, ist auch der Wald, der Ronja jedes Jahr im Frühling ihren wilden, wunderbaren Frühlingsschrei entlockt. In Angst endet so manche Geschichte, bevor sie überhaupt begonnen hat, und Mut ist oft der erste Schritt auf Wegen, die es sich zu gehen lohnt. Aber Mut lässt sich nur lernen an den Stromschnellen des Lebens, wo es wilder zugeht, als uns lieb ist.

 

 

Dr. Rahel Siebald hat von 2020-2024 an der Universität Aberdeen (Schottland) eine Doktorarbeit über Management und Leiterschaft in Kirchen geschrieben. Sie liebt es, wandern zu gehen, durch Bücherläden zu streifen und mit Freunden zu reisen.

 

[1] Aus: Ronja Räubertochter, Kinderbuchklassiker von Astrid Lindgren, 1981, erschienen bei Oettinger, Seite 17-18

[2] Ronja Räubertochter, Seite 24

[3] Ronja Räubertochter, Seite 24-25