Die Seele braucht Zeit
Wenn theoretisch als richtig befundene Themen plötzlich ganz persönlich werden, kann einem schon mal das ein oder andere Wort im Hals stecken bleiben. Thomas Schäfer weiß, wovon er spricht, und das nicht nur als Seelsorger, sondern auch als betroffener Mensch.
Gott vergibt – das sagt er uns zu. Als Kind und Jugendlicher hatte ich durch mein katholisches Elternhaus ein frühes Empfinden dafür, was in Gottes Augen gut ist und wo ich das Ziel verfehle und mich schuldig mache. Von daher war es mir wichtig, im Gebet die Vergebung zu erfahren. Doch es wurde nochmals etwas ganz Anderes, als ich mit Anfang 20 wirklich begriffen habe, was Jesus für uns Menschen durch sein Opfer am Kreuz „vollbracht“ hat, und ihm mein Leben übergab. Das Geschenk der ewigen Erlösung und die Gewissheit seiner bedingungslosen Liebe und Treue zu mir, hat mir ein ganz neues Leben ermöglicht. Seither erlebe ich bei allem Ehrlichwerden und manchmal auch schmerzvollen Momenten mit dem eigenen Versagen, wie befreiend es ist, aus der Vergebung Jesu zu leben. Es bleibt ein Geheimnis des Glaubens, über das ich nicht verfüge, und zugleich ist es eine zutiefst dankbar empfundene Wirklichkeit: Jesu Sanftmütigkeit und versöhnende Kraft macht immerzu einen Neuanfang möglich. Mit mir selbst und auch mit meinem Nächsten.
Je näher, je schmerzhafter
Meine Frau hat vor Jahren den Begriff „Fehlerfreundlichkeit“ für unseren Ehe- und Familienalltag geprägt. Mir gefällt diese Beschreibung sehr, denn Fehler machen wir alle und wir alle stoßen an unsere Grenzen - niemand ist perfekt, wo auch immer wir miteinander leben. So gehört es für mich zur täglichen Übung in meiner Nachfolge mit mir selbst barmherzig zu sein und mit dem Gegenüber in gleicher Weise, wenn Schuld und Schuld-gefühle mich belasten. Mir kommt dazu das Jesuswort in den Sinn: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lukas 6,36).
Wenn Vergebung etwas benötigt, dann ist es Zeit! Wenn jemand vor mir steht und mich auf einen Fehler hinweist oder ich selbst den Geistesblitz der Erkenntnis habe, dann mag das hier und da schon mal gehen, dass ich zeitnah um Vergebung bitte. Ich denke da an Situationen mit unseren Kindern, wenn ich manchmal an ihrer Zimmertür gestanden bin und geklopft habe, um Verzeihung zu bitten. Aber wenn es mir selbst oder der Person nicht einmal bewusst ist oder gar nicht in den Sinn kommt? Dann merke ich wie herausfordernd es ist, den ersten Schritt zu machen, zu vergeben und dann loszulassen, um selbst befreit weitergehen zu können. Vor allem, je näher mir Menschen sind, desto mehr kann ich verletzen oder auch verletzt werden. In solchen Beziehungskonflikten erlebe ich wie wichtig es ist, der eigenen Seele Zeit zu geben. Und wie hilfreich ist es, wenn ich dann noch einen Menschen an der Seite habe, der mir zuhört und im Gebet begleitet.
Über Motive und Mut
In solchen Zeiten innerer Zerrissenheit erlebe ich oft so was wie ein Gefühlskarussell: Ärger, Schmerz, Wut, Traurigkeit, negatives Denken, Unrechtsempfinden, bis hin zur Selbstanklage, Reue und Sehnsucht nach Klärung, Frieden, Vergewisserung und Zuspruch. Und ich habe gelernt: alles darf sein, will angeschaut und heil werden durch die große Kraft der Barmherzigkeit Gottes. Mir steht eine Mitarbeitersituation in der Gemeinde vor Augen. Die unterschiedlichen Sichtweisen eines Mitarbeiters in theologischen Fragen und was die eigene Stärke angeht, haben sich letztlich als eine Machtfrage entpuppt. Dies zu erkennen, brauchte intensive Zeit im Gebet, innerer Klärung eigener Motive und Denkweisen, und vor allem Mut zu handeln, den Zeitpunkt zu erkennen, um zu reden und das Problem nicht auszusitzen oder auf die lange Bank zu schieben. Mit Hilfe von professioneller Beratung und der Bereitschaft zu vergeben, ergaben sich ganz neue Sichtweisen und Schritte.
Vergeben heißt nicht auszublenden, vergessen oder gar etwas richtigheißen. Es heißt vor allem, alles abgeben an den, der uns sieht, der uns durch und durch kennt und versteht. Der uns beim Namen gerufen und erlöst hat und für alles bezahlt hat, der für Gerechtigkeit sorgt und alles wett macht durch seine „teure Gnade“, wie Bonhoeffer sie beschreibt. Der lebendige Glaube an Jesus Christus ermöglichte mir nicht zu verbittern, sondern nach vorne zu blicken, neue Wege zu gehen. Mit dem Mitarbeiter bin ich nach wie vor herzlich verbunden. Klärende Gespräche waren dazu nötig und für mich befreiend, um die wunden Punkte anzusprechen und die vergebende Liebe von Jesus zu erleben, die das Schuldkonto wieder „auf Null“ gestellt hat und ein gemeinsames Weitergehen ermöglichte.
Ob mit oder ohne Schuld
Was jede Abendmahlsfeier verdeutlicht und zuspricht, ist, was Jesus für uns alle getan hat. Hier erlebe ich, wie meine Sünden Jesus ans Kreuz gebracht haben und wie er mir von dort immerzu seine Hand reicht. Wenn ich die Worte höre „Christi Leib für dich geben – Jesu Blut für dich vergossen“, dann weiß ich: es geht nicht allein um einen heiligen Zustand, den ich Jesus verdanke, es geht um eine heile Beziehung. Jesus hat sein Blut vergossen, damit ich leben und stets in seine geöffneten Arme kommen kann – ob mit oder ohne Schuld. Und da, wo ich Vergebung meiner Schuld erfahre, da geschieht Neues, da wird der Mensch durch die Gnade wieder neu gemacht. Ich kann aus der Kraft Jesu neue Schritte wagen und dazu seine Vergebungsbereitschaft weitertragen in mein Umfeld, wo es ebenso dieses Licht und diese versöhnende Kraft braucht. Das erlebe ich im Privaten wie als Pastor und nun als Klinikseelsorger am Krankenbett, wo so manche Schuldfrage quält und Jesus da ist, hilft und heilt.
Die Bibel zeigt, dass Gott gerade durch Vergebung seine Liebesgeschichte mit jedem von uns schreibt. Jesus ermöglicht jedem jederzeit einen Neuanfang. Ich brauche nicht verzweifeln, wenn das Gewissen oder gar der Feind anklagt. Mit Gottes Hilfe gibt es immer einen Weg - egal was mir passiert ist, seine Gnade genügt wirklich. In dieser Beziehung zu Jesus komme ich zur Ruhe, finde ich Frieden und Vergebung. Weil Jesus alles gegeben hat und gibt, lohnt es sich unbedingt, Empfangender und Lernender zu bleiben, Jesus Christus nachzufolgen und Ihm die Ehre zu geben.
Thomas Schäfer absolvierte 1994 am TSA und arbeitete anschließend 6 Jahre als Gemeindediakon in Glauchau/Sachsen. 2000 war er 13 Jahre Gemeinschaftspastor in KA-Durlach und 8 Jahre in Hockenheim. Seit 2021 arbeitet er als Seelsorger am Universitätsklinikum Mannheim, im Herbst 2022 wird er Mitglied im Stiftungsbeirat des LZA. Gemeinsam mit seiner Frau Britta hat er zwei erwachsene Kinder.