Es braucht nicht viel, um aufzublühen

Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen? Sind Sie zufrieden? Mit dem äußeren Bild, und auch mit dem, das tiefer liegt? Jürgen Schulz meint, dass Menschen manchmal bemerkenswerte Wege gehen, um sich mit dem zu arrangieren, was ihnen nicht gefällt. Und er meint, wer mit der Selbstwahrnehmung nicht recht glücklich wird, stützt sich besser auf die Einschätzung einer höheren Instanz.

 

 

In den letzten zehn Jahren hat sich die Selbstwahrnehmung der Teenager gravierend verändert. Betroffen sind besonders Mädchen und junge Frauen. Die psychologischen Behandlungen aufgrund von Depressionen, Angstzuständen und Selbstverletzungen sind sprunghaft angestiegen. Wir spüren mit voller Wucht die grässlichen Auswirkungen der starken Verbreitung verschiedener Social-Media-Plattformen. Instagram hat die eigene Wahrnehmung grundlegend verändert. Schönheit gibt es nur nach entsprechender Nachbearbeitung durch Fotofilter. Die Realität wird durch Scheinrealitäten ausgetauscht. Selbstzweifel nehmen zu und der Ausweg wird in Schönheitsoperationen gesucht.

 

Gott sieht sie an

Das Bedürfnis, wahrgenommen und gewürdigt zu werden, ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Wir suchen nach Anerkennung und es verletzt uns, übersehen und abgelehnt zu werden. Menschen zerbrechen, wenn Wertschätzung und Nähe fehlen. Die Bibel berichtet von solchen Momenten zu Genüge. Da ist Hagar, Saras Magd, die zuerst als Leihmutter für ihre Herrin herhalten muss, nur um dann, als sie tatsächlich schwanger wird, gedemütigt zu werden. Als sie die Demütigungen nicht länger ertragen kann, läuft sie davon. Die Beziehung von Abram, Sara und Hagar ist geprägt von Arroganz, Verachtung und fehlender Verantwortungsbereitschaft. Es braucht überhaupt keine physische Gewalt, um Menschen zu zerstören.

 

Umgekehrt gilt aber auch: Es braucht nicht viel, damit Menschen aufblühen. Als Hagar davonläuft, begegnet ihr Gott. Mitten in der Wüste findet er sie. Gott sieht sie an. Sie, die doch nur eine flüchtige Magd ist und dazu noch schwanger von ihrem Herrn. Doch Gott sieht sie an. Er achtet auf sie und nimmt ihr Leid wahr. Er erlöst sie nicht aus ihrem Leid, sagt ihr aber in der schwierigen Situation eine Segensverheißung zu. Auch wenn sie jetzt schwach ist und leidet, ihr Sohn wird einflussreich und stark sein. Das Elend wird nicht siegen, sondern das Leben gewinnen. In diesem Moment spricht Hagar Gott bei seinem Namen an: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1.Mose 16,13).

 

Es war sehr gut

Gottes Name ist seine Identität. Gott ist ein Gott, der uns sieht. Er nimmt uns wahr, mitten im Leid. Er sieht uns an, trotz aller Schuld. Er begegnet uns weiterhin mit Wertschätzung und Achtung. Denn das war von Anfang an Gottes Idee für das Miteinander der Menschen. Als Gott diese Welt schuf, gestaltet er mit dem Garten Eden ein Umfeld, indem das Leben aufblühen konnte. Jeder Tag, an dem die Schöpfung immer mehr Form annahm, endete mit der ausdrücklichen Bemerkung: „Gott sah, dass es gut war.“ Nur einmal bricht dieses Muster. Am sechsten Tag. An dem Tag, als Gott die Menschen schuf, schaute er sich seine Schöpfung an und urteilte: Dieser Tag „war sehr gut.“ (1.Mose 1,31). Gott schafft eine wunderschöne Welt. Er ist ein Gott des Lebens. Der Garten Eden ist so paradiesisch, weil es hier keine Demütigung und keinen Tod gibt. Hier braucht es keine Foto-Filter und keine psychologische Begleitung. Hier ist die Welt in Ordnung. Hier gibt es keine Gefahr, hier können Menschen nackt sein, ohne sich schämen zu müssen (1.Mose 2,25).

 

Für kurze Zeit ist alles sehr gut. Bis der Mensch rebelliert und sich gegen Gott auflehnt. Da wendet sich das Blatt. Von nun an prägen Tod und Chaos diese Welt. Das Leben blüht, wenn überhaupt, nur kurz auf und bis heute sind wir ständig mit dem Bösen konfrontiert. Als Menschen müssen wir der Tatsache ins Auge schauen, dass die Schöpfung, so wunderschön sie auch ist, entstellt ist. Weder die Natur noch wir Menschen sind heute noch „sehr gut“. Wir leben mit der Realität des Bösen und sind nicht selten die Verursacher des Bösen. Wir sind und bleiben Geschöpfe Gottes, aber unser Denken, Fühlen, Wollen und Handeln ist beschädigt. Oftmals wollen wir uns wie Adam und Eva am liebsten Verstecken (1.Mose 3,7-8). Wir wollen nicht, dass wir gesehen werden, wie wir wirklich sind.

 

Wir sehnen uns nach Ewigkeit

So wie wir heute sind, können wir nicht mehr im Garten Eden leben. Aber die Sehnsucht nach der schönen heilen Welt—dem Paradies—bleibt. Wir sehnen uns nach der Ewigkeit, die weder Tod noch Leid kennt (Prediger 3,11). Und während wir uns nach der Ewigkeit sehnen, sucht Gott uns.Während wir uns voreinander und vor Gott verstecken, geht er durch seine Schöpfung und fragt: „Wo bist du?“ (1.Mose 3,9). Gott lässt sich nicht von der neuen leidvollen Wirklichkeit abschrecken. Er weiß, dass unsere Rebellion die Ursache des Elends ist, aber er bleibt sich treu. Er steht zu seinem Namen: Er ist ein Gott, der uns sieht.

 

Wir halten die Wirklichkeit des Lebens kaum noch aus. Deswegen brauchen wir Foto-Filter, Schönheitsoperationen und Psychotherapien. Da ist der junge Patient einer Psychotherapeutin, der harte Drogen nimmt, weil er die Sinnlosigkeit des Lebens nicht ertragen kann. Und Jesus schaut die Mühseligen und Beladenen an und lädt sie ein, bei ihm zur Ruhe zu kommen (Matthäus 11,28-30). Unsere Welt ist unruhig, weil wir Gott nicht wahrnehmen wollen. Wir wollen uns der Wirklichkeit des Lebens nicht stellen, denn wir können mit ihr nicht umgehen. Wir haben keine Antwort für unsere leidenden und sterbenden Freunde. Wir sitzen sprachlos dem Paar gegenüber, das ungewollt kinderlos bleibt. Und unsere Beziehungen zerbrechen, weil wir einander nicht mehr wahrnehmen.

 

Es ist kompliziert

In einer Studie, die im Dezember 2020 veröffentlicht wurde, ist ein Forschungsteam der Frage nachgegangen, warum Menschen ihre Partner betrügen. Die Antworten fordern heraus: Wut auf den Partner, Steigerung des Selbstwerts und fehlende Liebe waren die drei Hauptgründe. Weil die Wertschätzung fehlt, Konflikte vor sich hin schwelen und die Unsicherheit bleibt, ob er oder sie tatsächlich die richtige Wahl ist, betrügen wir. Wir wollen wahrgenommen und gesehen werden. Wir halten es schlicht nicht aus, keine Bestätigung zu erhalten. Und gerade das macht es kompliziert. Wir sind nämlich alle keine Engel. Weil wir nicht mögen, was wir sehen, übergehen wir einander. Wir nehmen uns wichtiger als unsere Mitmenschen. Kaum ist der Mensch nicht mehr im Garten Eden erschlägt ein Bruder den anderen. Aus purem Neid (1.Mose 4). Etwas anders gelagert, aber genauso tödlich: Da liegt der angefahrene Radfahrer auf der Straße und der Autofahrer fährt bewusst weiter. In beiden Beispielen haben Menschen ihre Mitmenschen wahrgenommen. Beide haben entschieden, dass der andere die eigene Zeit und Wertschätzung nicht wert ist.

 

Kein Mensch möchte in einer solchen Welt leben. Und doch sind wir es, die so eine Welt schaffen. Als Gott uns das Leben schenkte, haben wir den Tod gewählt. Wir sind nicht mehr die Menschen, die Gott für ein Leben in seiner Gegenwart geschaffen hat. Und: Es liegt auch nicht mehr in unserer Hand, dass wir wieder zu solchen Menschen werden können. Nur wer bereit ist, sich dieser Tragik des Lebens zu stellen, wird auch den Ausweg aus dem selbst verschuldeten Chaos finden. Denn es gibt Grund zur Hoffnung. Weil Gott uns sieht. Er hat uns nicht einfach uns selbst überlassen.

 

Wir kommen zur Ruhe

Gott lädt uns ein, bei Jesus zur Ruhe zu kommen und neues Leben zu finden (Johannes 10,10). Die gute Nachricht ist, dass Jesus nicht nur den Tod überwunden hat, sondern uns ein erfülltes Leben anbietet—schon heute, mitten im Chaos des Alltags. Wer an Jesus Christus glaubt, bleibt weiterhin Mensch, wird aber auch zu einem Kind Gottes (Galater 3,26). Wir werden mit einem himmlischen Segen beschenkt (Epheser 1,3). Jesus wird zu unserem Freund (Johannes 15,15) und Bruder (Hebräer 2,11). Wer zu Jesus Christus gehört, ist „eine neue Schöpfung.“ (2.Korinther 5,17). Kurz, wir erhalten eine neue Identität. Während wir noch in dieser Welt leben, werden wir schon zu Bürgern des Himmels (Philipper 3,20). Im Wissen, dass wir in uns boshafter sind, als wir es uns vorstellen können, wenden wir uns Gott zu, der uns trotz alles Bösen wahrnimmt und liebt―mehr, als wir uns das vorstellen können.

 

Einmal ohne Filter

Diese liebende Annahme Gottes verändert alles. Sie überwindet den Tod, durchbricht das Böse und schafft neues Leben. Als Christinnen und Christen schauen wir aus einer veränderten Perspektive auf die Herausforderungen des Alltags. Wir stellen uns der Realität der Gegenwart, begegnen ihr aber mit der Wirklichkeit des Himmels. Wir sehen uns selbst und unsere Mitmenschen mit den Augen Gottes. Wir sind besonders, weil Gott uns einen neuen Status zuspricht. Als Kinder Gottes sind wir mehr als Geschöpfe dieser Welt. Wir wissen, dass wir als Kinder Gottes in einer Welt leben, die nur noch ein Scherbenhaufen dessen ist, was Gott eigentlich für uns geschaffen hat. Aber wir leben als Kinder Gottes (1.Johannes 3,1-3). Wir leben in dieser Welt als Botschafter einer anderen, vollkommenen, schönen und heilen Welt. Wir tragen seinen Namen: Wir sind Christinnen und Christen. Wir nehmen uns nicht mehr einfach nur als Bürger dieser Welt wahr. Wir sind eine neue Schöpfung. Wir gehören zu Jesus Christus und wir warten auf ihn. Wir warten darauf, dass Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft, wenn Jesus wiederkommt (Offenbarung 20-22). Wir warten darauf, dass das Chaos und der Tod endgültig besiegt sein werden. Wir warten auf diese neue Welt, die paradiesisch sein wird. Und weil diese Perspektive des Himmels schon jetzt unseren Alltag prägt, verzichten wir gerne auf Foto-Filter und Schönheitsoperationen.

 

 

Jürgen Schulz ist verheiratet mit Lydia und Vater von vier Kindern, war Pastor einer Gemeindegründung in Paderborn, ist Doktorand im AT, im Podcast duolog.de mit Karl im Gespräch über Glaube und Gesellschaft und leitet seit Januar 2023 als Rektor das TSA.